Spezieller Teil 4 :Differentialdiagnostik und Pathologien/

Klinische Tests der Gelenke und Gewebe

 

Abschnitt 4 “Schulter“ (S) 

 

Der Weg zur Diagnose (siehe allgemeiner Teil) ist an den Gelenken des Körpers ähnlich, jedoch aufgrund der Anatomie (z.B. Anzahl der Gelenkpartner) auch etwas spezifisch.

Das erste Ziel der Diagnostik differenziert die Orte des pathologischen Geschehens (Ortsdiagnose) und unterscheidet so artikulär versus extraartikulär.

Im Kontinuumdenken erscheint diese Unterscheidung vielleicht absurd, weshalb betont werden sollte, dass es bei der Differenzierung nur darum geht, den dominanten Störfaktor zu ermitteln.

Wie wir bei den Abschnitten Fuß, Knie und Hüfte gelernt haben, hat jedes Gelenk nicht nur seine anatomischen, sondern auch pathologischen Spezifitäten.

So ist gerade der Übergang von Abschnitt 3 (Hüfte) zum Abschnitt 4 (Schulter) anatomisch, biomechanisch, funktionell und pathologisch ein großer Schritt. Der funktionelle „Belastungszeitanteil“ des Schultergelenkes im offenen System, im Vergleich zum geschlossenen System, ist an der Schulter höher als an den Gelenken der unteren Extremität. Zudem ist das Schultergelenk in der Regel häufiger endgradigen Bewegungsabläufen ausgesetzt. Zumindest aber ist für die Lebensabläufe ein hoher Bewegungsumfang im Schultergürtel und Schultergelenk notwendig. So ist die Cavitas glenoidale im Verhältnis zum Acetabulum sehr schmächtig, was eine hohe Bewegungsfreiheit in allen Bewegungsebenen ermöglicht. An der Hüfte haben wir gesehen, dass selten Bandverletzungen auftreten und genetisch die stärksten Bänder des Körpers verbaut wurden. Am Fuß- und Sprunggelenk gehören die Bänder hingegen zu den häufig verletzten Strukturen.

Wenn wir nun die Schulter betrachten, besprechen wir aber nicht nur das Art. Glenohumerale (1), also das Schultergelenk zwischen Caput humeri und Cavitas glenoidalis, sondern auch den Schultergürtel. Zu diesem zählen knöchern die Scapula und Clavicula.

 

Die umgangssprachliche „Schulter“ inkludiert somit die beiden Schlüsselbeingelenke, Art. Sternoclaviculare (SCG, 2) und Art. Acromiclaciculare (ACG, 3), sowie das Scapulothorakale „Gleitgelenk“ (4) und schließlich das subacromiale Nebengelenk (5).

 

Für die Stabilisation der Schultergelenke werden statische, dynamische und statisch-dynamische Kräfte benötigt. Zu den statischen Kräften zählen die ligamentären Strukturen, sowie Kräfte durch direkten Kontakt. Als dynamische Stabilisatoren wirken muskuläre Kräfte. Die Kombination aus statischen und dynamischen Kräften sind dort wirkende Adhäsivkräfte und Kräfte des Kapsulolabralen Komplexes.Durch dieses Zusammenspiel werden hohe Bewegungsumfänge und Krafterfordernisse der oberen Extremität ermöglicht. Gleichzeitig bedeutet es aber, dass sich an diversen Stellen Pathologien einstellen können, die nicht immer ganz leicht voneinander zu differenzieren sind. Auch an dieser Stelle sei erwähnt, dass es im Kontinuumdenken absurd erscheint, eine einzelne Struktur für ein pathologisches Geschehen verantwortlich zu machen, doch es geht wiederum um das Herausfiltern einer dominanten Struktur. Man darf aber an der „Schulter“ viele Schmerzgeschehen von einer funktionellen Seite betrachten, auch wenn strukturelle Schäden vorliegen. Weitergeleitete Bewegungsabläufe aus Dysbalancen der Wirbelsäule, insbesondere einer kyphotischen Brustwirbelsäule haben immer Auswirkungen auf die „Schulter“.

Bevor die verschiedenen Regionen der Schulter besprochen werden, werfen wir einen kurzen differentialdiagnostischen Blick auf Schulterpathologien, die häufig von Patienten in einer Schultersprechstunde vorgestellt werden (Quelle: Ärztekammer Hamburg)

 

 

Überblick über die Bewegungsausmaße der Region "Schulter"

 Anamnese Schulter (Beispiele):

  1. Allgemeine Anamnese (Red/Yellow flags, Schmerzmechanismus)
  2. Soziale Anamnese
  3. Spezielle Anamnese:
  • Gab es ein Trauma oder einen anderen spontanen Beginn?
  • Seit wann tut es weh?
  • War da etwas Besonderes?
  • Wie ist die Schmerzentwicklung (Bewegung, Belastung, Ruhe, Nacht)?
  • Wie ist der Schmerzcharakter (stechend, punktuell, flächig, ausstrahlend, kribbeln, brennend)?
  • Kontinuierlicher oder intermittierender Schmerz, zunehmend oder abnehmend?
  • Welche subjektive Funktionsbeeinträchtigung liegt vor? Gibt es ein Instabilitätsgefühl?
  • Liegen Gelenkblockaden vor?
  • Welche Therapien wurden schon durchgeführt? Gab es Infiltrationen?
  • Ggfs. Rheumaanamnese 

Inspektion Schultergürtel (Beispiele):

  •  Gelenkreliefs + Knochenreliefs betrachten: Stellung des Schultergürtels? Wie steht die Clavicula, Wie steht die Scapula? Sind ossäre Auffälligkeiten (z.B. Clavicula nach Fraktur, ACG)
  • Muskelrelief betrachten: Sind Hypotrophien auffällig? Asymmetrien?
  •  Wie ist die Wirbelsäulenstatik? (BWS-Kyphose, HWS-Stellung und vor allem CTÜ/ Cervikothorakaler Übergang? Skoliose?)
  • Gangbild: gleichmäßiges Mitschwingen der Arme 
  • Bewegungsbild beim Entkleiden (eingeschränkt, verkrampft, kraftlos?)
  • Blickdiagnostik von ventral, dorsal und lateral!

Die MSU-Diagnostik eignet sich in kaum einer Region so gut, wie am Schultergelenk. Mit Hilfe der Anamnese, Inspektion, den klinischen Test und der Sonografie kann diagnostisch zumeist eine gute Trefferquote erzielt werden.

Für spezielle Fragestellungen (z.B. Labrum, Frakturen) können andere bildgebende Mittel hinzugezogen werden.

Am Schultergürtel schlüsseln wir die Pathologien nicht nach Regionen auf, sondern eher „regio-strukturell“. Wir orientieren uns dabei anhand der Reihenfolge der Fragestellungen aus den klinischen Tests.

So soll im Rahmen der ökonomischen Testreihenfolge zunächst eine regionale Analyse stattfinden. Hierbei differenziert man am Schultergelenk nach den kapsulären, arthrogenen, subacromialen, sowie clavikulären Fragen (ACG, SCG). Die Rotatorenmanschette wird zudem gesondert betrachtet.

Ebenfalls werden Stabilitätsprobleme erörtert (Fragestellungen des kapsulo-ligamentären Apparates, des Arthrons und der Muskulatur). Diese werden in der strukturellen Differenzierung des jeweiligen Gelenkes mit besprochen.

Neurologische Differenzialdiagnostik (HWS, BWS, Plexus brachialis) und andere organische Pathologien aus dem Brustkorb- und Bauchraum fließen dabei regional mit ein. Bedingt durch die Komplexität des Schultergürtels kombinieren sich manche Störungen, so dass die Fragestellungen dann z.B. lauten können: Ist auch die Kapsel beteiligt? Ist auch eine Bandbeteiligung gegeben? Ist auch das Schultereckgelenk betroffen?

Natürlich gibt es aber an der Schulter ebenfalls isolierte oder dominante Geschehen.

Weitere Informationen finden sich unter "Grundlagen der Befundung", sowie auf den Befundbögen des Kapitels "Schulter".